Abschied nach 50 Jahren: die Werkgruppe
Als Kind gehörten „die Damen“ zum Inventar meines Familienlebens wie der Weihnachtsschmuck zum Weihnachtsbaum, wie die Zugreisen zwischen Berlin und Rheinhessen, wie der Mittagsschlaf mit anschließendem Kaffee und (selbstgemachten) Kuchen. Nach herzlichen Grüßen dieser erweiterten Tantenschaft und nach dem obligaten frommen oder nicht-so-frommen Motivationsspruch meiner Oma, Mulino Struck, umhüllten mich „die Damen“ in ihre konzentrierte und einträchtige Ruhe, in denen Hände und Finger sichere Griffe, Knoten und Stiche setzten. Nachdem mein Opa, Werner Struck, 2002 einen Schlaganfall und dann zwölf Jahre Rollstuhl-gebannte Krankheit erlitt, wurde auch er fester Bestandteil dieses in sich ruhenden Kreises, aus dem sich weiterhin mein kindliches und jugendliches Mitleben in der Mariendorfer Gemeinde speiste.
Jahrelang war es für mich selbstverständlich, dass die Werkgruppe scheinbar unerschöpflich neue Kreationen schuf, so unendlich wie die Ideen meiner Großmutter. Erst in erwachseneren Gesprächen mit meiner Oma ging mir allmählich auf, wie besonders die alltägliche Fürsorge für das harmonische Zusammenleben der Werkgruppe und ihr handwerkliches wie intellektuelles Gedeihen war. Besonders imponieren mir zum einen das Zeitzeugnis der Werkgruppe und zum anderen ihr Bekenntnis zur Kirchengemeinde als gelebten Glauben und intergenerationellen Zusammenhalt.
Nachdem meine Großmutter, wie vermutlich viele Frauen ihrer Generation, eher aus Not und Notwendigkeit zur Handarbeit kam, war die Hand- und Textilarbeit die vielleicht naheliegende, und doch oft übersehene, Dimension ihres zeitgeschichtlichen Gestaltungsdrangs. Als meine Großeltern Mulino und Werner Struck bereits zusammen waren – also nach 1947/50 – und als sie in dem ihnen noch fremden Berlin Arbeit und Studienplätze fanden, war das Geld so knapp, dass für Deko erst recht kein Budget vorhanden war und so stickte meine Oma Weihnachtsschmuck und -wäsche nach vorgezeichneten Mustern. Durch den Biographie- und Zivilisationsbruch des zweiten Weltkriegs war ja nicht zuletzt auch jede Menge handwerklichen Wissens verloren gegangen. Daher die schablonenhaften Tischdecken.
In diesen noch frühen Nachkriegsjahrzehnten, in denen die Trümmerfrauen mutig die Trümmer für den Wiederaufbau Berlins zusammensuchten, über die meine Großeltern zeitweise von Wedding bis Mitte liefen oder radelten – für Bus oder Bahn auf die Arbeit war erstmal auch kein Geld da – trieb meine Großmutter die Neugier und der Ehrgeiz an, dass Frauen und die immer noch größtenteils als Frauenarbeit verstandene Handarbeit zu ihrem seelischen und intellektuellen Wachstum Anlass geben konnte, nachdem Frauen dem dritten Reich nicht zuletzt deshalb wenig Widerstand boten, weil sie durch eine patriarchale Gesellschaftsordnung klein gehalten wurden. Statt kleinhalten war das Handwerk für meine Großmutter ein Bildungsauftrag.
Die Werkgruppe hatte als Motto immer, „den Damen“ die unterschiedlichsten Techniken und Materialien in die Hand zu geben, damit sie sich ihrer Gestaltungsfähigkeiten bewusst werden konnten. Bevor die Gruppe auf Textilien „hängen blieb,“ so meine Großmutter, gingen durch die Hände der Werkgruppe Ton zum Töpfern, Garn zum Kordeln drehen und Weben, Sägen, Unmengen an Stoff und auch viele Perlen. Aber das Jahr der Werkgruppe war nicht allein durch Werken getaktet, sondern auch durch Fortbildungen und Bildungsreisen zu Klostern und Museen, in denen Frauen verschiedenster Lebensrichtungen Handarbeiten vermittelten, von Klosterstickerei zu Patchwork. Oft wurden diese Bildungsreisen zusammen mit der Frauengruppe der Gemeinde, unter der Leitung von Frau Stoewer, unternommen. Gleich nach dem Mauerfall besuchte die Werkgruppe Finkelkirchen in der Berliner Umgebung und näherte sich dadurch behutsam, durch Glauben und Geschichte, der neue deutsche Gegenwart. Als gewisse „Archivarin“ der Werkgruppe trug langjähriges Mitglied Frau Stalinski sorgfältig alle bearbeiteten Techniken zusammen. In diesem Archiv sind über die Jahre fast hundert Techniken zusammengekommen
Ein monumentales Ausmaß nahm das Handwerk-als-Bildungsauftrag natürlich in den Wandbildern für die Kirchgemeinde Mariendorf-Süd an. Die sechs Wandbilder, die schon Generationen dieser Gemeinde begleiten, entstanden im engen Dialog mit Pfarrer Stoewer, in denen relevante Bibelpassagen und ihre Auslegung es meiner Großmutter und ihrer Werkgruppe ermöglichten, uns allen ihre Vorstellung vom Christentum verbildlichen. Für mich, die ich diese Wandbilder mein Leben lang schon betrachte, ist diese Vorstellung vom Christentum eine, die von Fürsorge durchzogen ist. Auch wenn jedes Wandbild eine andere Geschichte erzählt, sehen wir auf allen Christen als Kinder und Zöglinge einer wohlwollenden und vertrauensvollen höheren Macht.
Die Wandbilder waren nicht nur nach außen bedeutend, sondern waren auch „nach innen“ eine besonders schöne Zeit für die Werkgruppe, die durch Werken und Freundschaft verbunden ist. Jedes Wandbild wurde skizziert, vorgestellt, und diskutiert. Aber dann wurden die Applikationen—von Hirten zu Fischen zu Palmen zu Tempeln—Stück für Stück genäht und angebracht an das wachsende Wandbild, das auf einem Rahmen aufgespannt über das großelterliche Wohnzimmer thronte. Die Botin war, auf dem Rad zwischen dem Buchsteinweg und der Kirche pendelnd, meine Großmutter. Sie erzählt auch, dass Freunde der Familie das Wohnzimmer lange Zeit nur mit diesen entstehenden Wandbildern kannten. Und sie erinnert, dass sich Bild für Bild Spezialistinnen in der Werkgruppe entwickelten: Spezialistinnen für Menschenfiguren, Spezialistinnen für Bäume, usw. Darüber hinaus können meine Großmutter und die Damen in den Wandbildern auch sehr persönliche Facetten wiedererkennen: Manche Figuren ähneln den Kindern der Dame, die sie nähte. Manche Landschaften sind gezeichnet von den Erlebnissen der Damen zu dieser Zeit.
Viele Anekdoten könnte ich auch erzählen als Beispiele für den intergenerationellen Zusammenhalt, den meine Oma und ihre Werkgruppe stets als Teil ihres Glaubens vorlebten. Die alljährlichen Spenden für die Kinder- und Jugendarbeit, die aus dem Erlös der Sommerfeste und Weihnachtsbasare gespeist wurden und über die Jahre über mehr also 160 000 Euro einbrachten, zeigt nur in Euros, dass meine Oma und ihre Werkgruppe die Gemeinde als intergenerationellen Schulterschluss begreifen: die inzwischen ältesten der Gemeinde arbeiteten darüber hinaus jahrzehntelang die Geschenke die im weihnachtlichen Kindergottesdienst an die jüngsten Gemeindemitglieder verteilt wurden: darunter Ringe, Sterne, Figuren, Beutel, Laternen, Fische oft in Rücksprache mit Pfarrer Rütenik, der diese Geschenke oft in seine Weihnachtspredigt einfließen ließ. Der Kindergarten der Gemeinde Mariendorf-Süd wird geschmückt von einer kostbaren Patchwork-Decke, sinnbildlich dafür wie jedes Kind der Kirchgemeinde Mariendorf-Süd nicht zuletzt auch von den emsig im Hintergrund arbeitenden, ältesten Kirchenmitgliedern der Werkgruppe gehalten und getragen werden. All das hätte sie nicht ohne die Damen geschafft; sie waren für meine Großmutter sehr wichtig.
Inzwischen in ihrem fünfzigsten Jahr angelangt, treffen die nunmehr fünf Damen mit leichterem Gepäck und dafür mit Gehstöcken und Rollatoren aufeinander. So erfüllte Oma die flapsige Antwort, die sie Pfarrer Stoewer gab, als er sie Anfang 1975 fragte, wie lange sie vorhabe, die Gruppe zu führen: „Ganz einfach, bis Gott mir die Nadeln aus der Hand nimmt!“ Die Begrüßungen und Abschiede sind noch herzlicher als früher, da die Gruppe, deren jüngstes Mitglied um die 60 und deren ältestes aktives Mitglied 92 Jahre alt ist, schon einige Abschiede miterlebt hat. Inzwischen in ihrem fünfzigsten Jahr angelangt, bietet die Werkgruppe vorzugsweise im Sommer ihre Arbeiten an, da Kälte und manchmal auch Eis und Schnee es zu beschwerlich machen, den Weihnachtsbasar auszurichten. Außerdem stärken auf dem Sommerfest Kaffee und Kuchen, Bratwürste, und Erdbeerbowle die inzwischen geschrumpfte Bemannung – Befrauung – des Werkgruppentischs. Inzwischen in ihrem fünfzigsten Jahr angelangt, zieht sich die Werkgruppe behutsam aus dem Gemeindeleben zurück. Der Gemeinde steht es nun zu, die fünf Jahrzehnte der Werkgruppe im Herzen, in Erinnerung und Taten, weiterzutragen. Dazu lade ich Sie mit diesem Artikel herzlich ein.
Gwendolen Pare (Enkeltochter von Mulino Struck)
Lebenswerk
Die Ewigkeit hat einen Teppich bei mir in Auftrag gegeben an jenem Tag, von dem sie sagen ich hätte das Licht der Welt erblickt.
Dabei war es nur ein Tausch mit dem des Himmels und nun webe ich an den Kettfäden des Lebens entlang in liebesrot und blütengelb, in ozeanblau und wolkenhell.
Manchmal gleitet das Schiffchen durch raue Gewässer, doch ab und zu gehen wir an Land und ruhen aus im warmen Sonnensand.
Die Ewigkeit hat einen Teppich bei mir in Auftrag gegeben und das Schönste ist:
so viele Menschen weben mit.
– aus dem Buch Der Faden der Freundschaft von Cornelia Elke Schray
Von Britta Schröter
Liebe Frau Struck,
als ich im letzten Gemeindeblatt gelesen habe ‚50 Jahre Werkgruppe‘ hab ich mir schnell Bilder ‚30 Jahre Werkgruppe‘ angeschaut und es kam mir vor wie erst vor kurzer Zeit.
Unzählige Werke sind dann unter Ihrer Anleitung mit viele hilfreichen Händen entstanden und haben ihre Liebhaber gefunden und schmücken die eine oder andere Wohnung.
Aber wie in anderen Gemeinschaften in Mariendorf-Süd werden Hände müder und möchten ruhen, doch mit Sicherheit blicken die TeilnehmerInnen freudig auf die gemeinsame Zeit zurück.
Wir wünschen Ihnen, daß Sie mit Zuversicht und Gottvertrauen in die Zukunft schauen.
Ihre durch Sie entstandene Töpfergruppe