Rentier

Vom Rentier, das nicht warten konnte, Teil 3

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Letztendlich konnten sie aber alle Geschenke ausliefern und die Kinder freuten sich sehr.“
Die Rentiere wieherten vor Vergnügen. „Das ist ja eine tolle Nummer“, japste das jüngste Rentier. „Ich würde für mein Leben gern mal eine heiße Schokolade trinken. Wer nimmt mich mit in ein Eiscafé?“ Das zweitälteste Rentier zeigte ihm dezent einen Vogel und sagte mitleidig: „Du kannst doch nicht einfach so in ein Eiscafé galoppieren und heiße Schokolade bestellen. Du Baby!“ Das jüngste Rentier war keineswegs beleidigt, sondern sagte nur: „Ich könnte ja diesen Tobias fragen, ob er mich begleitet. – Und bezahlen kann ich nämlich auch!“
Nun schauten alle Anwesenden erstaunt auf das jüngste Rentier. Das Feuer im Kamin knisterte und alle warteten auf eine Erklärung. Das jüngste Rentier lächelte verlegen und sagte dann: „Ich habe bei meinem ersten Besuch auf der Erde ein paar Münzen gefunden. Die lagen auf der Straße und glitzerten im Mondlicht. Da habe ich sie mitgenommen.“

Der Weihnachtsmann lächelte nachsichtig und beruhigte die aufgebrachten älteren Tiere. „Ja, ja. So ist das mit der Jugend. Ihr wart auch mal jung und wolltet die Welt erkunden. In ein paar Jahren wird unser Jüngster hier wissen, dass wir NICHTS von der Erde mitnehmen, sondern nur Geschenke dalassen. Nicht wahr, mein Kleiner?“ Das jüngste Rentier war nicht ganz überzeugt, nickte aber zustimmend und versprach: „Mache ich nie wieder, ehrlich!“
Rudolph räusperte sich und winkte mit dem nächsten Zettel, doch zuvor erhob sich der Weihnachtsmann von seinem Sessel und legte noch ein wenig Holz nach. Er schaute in die versammelte Runde und fragte: „Wer hat noch Appetit auf eine Mohrrübe oder einen Apfel?“
Sofort gingen mehrere Hufe in die Höhe. Und während krachend die Mohrrüben und die Äpfel verspeist wurden, erzählte Rudolph von Julian, den er als nächstes besucht hatte.
„Also, dieses Kind hat vielleicht Fantasie“, begann Rudolph. „Julian schrieb: In einer kleinen Stadt namens Eisstadt lebten hundert Menschen. Da kam ein Schurke daher, der Zerstörinator. Er wurde von Polizisten gefangen genommen und ihm wurden Metallketten angelegt, aber er setzte seine Kräfte ein und zerstörte die Fesseln. Danach ging er in den Weihnachtswald.“

Rudolph unterbrach seinen Vortrag und schaute mitleidig zum jüngsten Rentier, das leise schluchzend hinter einen Sessel gekrochen war. „Was ist los, Kleiner?“, fragte er und zog ihn an seinem Geweih hervor. Der Kleine sagte leise: „Ich habe Angst!“ Rudolph tätschelte ihm den Hals und beruhigte ihn. „Wirklich nicht nötig. Dieser Julian ist ein nettes Kind. Das ist nur eine Geschichte. Vielleicht bist du dafür noch ein bisschen zu klein.“ Nun war das jüngste Rentier beleidigt. Er hob die Nase in die Luft und sagte: „Keineswegs! Lies weiter. Ich habe nur einen Schreck gekriegt, aber ich will natürlich wissen, wie es weitergeht.“ Und so las Rudolph weiter:
Der Zerstörinator war gar nicht so böse, wie die Menschen geglaubt hatten. Aber da er nicht ihre Sprache sprach, konnten sie sich nicht mit ihm verständigen und wollten ihn gerne gefangen nehmen. Das wollte sich der Zerstörinator nun auch nicht gefallen lassen. Als er im Weihnachtswald ankam, hatte er sich aber entschlossen, den Menschen der kleinen Stadt zu beweisen, dass er auch nett sein konnte. Und so setzte er seine Kräfte ein, um für alle Bewohner der kleinen Stadt einen Weihnachtsbaum zu schlagen und schleppte sie aus dem Wald bis in die Stadt hinein in jedes Haus.“
Von einem Zerstörinator hatten die Rentiere noch nie gehört. Die Geschichte hatte zwar ein gutes Ende genommen, aber sie schauten dennoch ein wenig ratlos drein.

Der Weihnachtsmann beruhigte sie: „Kinder haben halt viel Fantasie. Das ist doch ganz großartig.“ Er wandte sich an Rudolph und sagte: „Ich denke, für eine letzte Geschichte haben wir noch Zeit. Dann sollten wir uns allmählich ins Heu legen. Hast Du vielleicht auch was aus anderen Ländern?“
Rudolp blätterte in seinen Unterlagen und murmelte: „Vielleicht jetzt etwas von Afrika? Ich war doch auch schon einmal da.“ – „Hi, hi“, kicherte das drittjüngste Rentier. „Das reimt sich ja.“ „Also, gut“, meinte Rudolph. „Dann bekommt ihr jetzt die Geschichte von Lisa zu hören.

Es ist sehr interessant, wie sie sich Weihnachten vorstellt. Passt auf. Die Geschichte heißt: Der Weihnachtsmann in Afrika.
„Der Weihnachtsmann kommt von Afrika und bringt mir immer, was ich will. Ich werde dem Weihnachtsmann einen Teller mit Keksen und Milch hinstellen, und dann werde ich mich verstecken und ihm ein Geschenk geben. Ich hoffe, es gefällt ihm.“
Hier unterbrach der Weihnachtsmann kurz und schlug sich vergnügt auf die Knie. „Ho, ho, ho! Das ist ja großartig. Normalerweise bekommen die Rentiere immer Kekse und Milch. Endlich denkt mal jemand an mich. Und ein Geschenk will sie mir auch noch geben. Sehr nettes Kind. – Entschuldige, Rudolph. Wie geht’s weiter?“Rudolph räusperte sich und suchte dann umständlich nach der Stelle, an der er aufgehört hatte. Insgeheim dachte er darüber nach, sich eventuell eine Lesebrille anzuschaffen. Manche Kinderschriften waren nicht ganz leicht zu entziffern für ein älteres Rentier. Aber er nahm den Faden wieder auf und las: „Und jetzt sag ich mal, wie er aussieht. Also, er ist dick, hat einen langen weißen Bart und eine rote Mütze. Er hat auch 5000 Elfen und 20 Rehe. Er hat immer sehr viele Geschenke; Afrika ist kalt, aber der Weihnachtsmann ist toll. Der Schlitten ist richtig groß. Aber Afrika ist ja auch sehr groß und der Weihnachtsmann braucht ziemlich lange, bis er bei allen Kindern gewesen ist. Die Kinder dort freuen sich über ganz andere Sachen als wir hier, aber das weiß der Weihnachtsmann natürlich.“
„Wow“, machte der Weihnachtsmann. „Das war aber eine lange Geschichte. Und ich habe sogar ein Geschenk bekommen.“ – „Und was zu essen“, meldete sich das zweitjüngste Rentier zu Wort. „Richtig“, schmunzelte der Weihnachtsmann. „Da war von Milch und Keksen die Rede und ich habe vom Zuhören Appetit bekommen. Wem darf ich denn noch etwas anbieten, bevor wir auseinander gehen?“ Eigentlich hatte niemand wirklich Hunger, aber es war so gemütlich zusammen auf dem Fußboden zu liegen, das Feuer im Kamin knistern zu hören und den Geschichten der Kinder zu lauschen. Der Keksteller, den der Weihnachtsmann aufgefüllt hatte, machte also noch eine letzte Runde.

Rudolph legte das letzte Blatt zur Seite und seufzte. „Ja, Leute, das war’s. Nun wisst ihr, wie sich die Kinder in Berlin die Sache mit dem Weihnachtsmann vorstellen. Ich freue mich schon darauf, morgen Abend bei ihnen zu landen.“ Der Weihnachtsmann nickte und sagte: „Rudolph! Ich bin froh, dass du schon eine kleine Runde vorgearbeitet hast. Das war ein wunderschöner Abend mit euch allen und das verdanken wir vor allem deiner Superschnellpaste und natürlich den Geschichten der Kinder! Ich freue mich schon darauf, ihnen morgen etwas Schönes unter den Baum legen zu können.“
Rudolph hüstelte und überlegte kurz, ob er die Sache mit der Superschnellpaste korrigieren sollte. Er beschloss, dem Weihnachtsmann während der langen Reise noch einmal genau zu erklären, wie das Zeug richtig hieß. Er gähnte, und auch bei Rentieren kann Gähnen ausgesprochen ansteckend wirken. Zuerst gähnte das Rentier rechts neben ihm, dann das Rentier links neben ihm. Es dauerte nicht lange und alle Rentiere beschlossen, noch einen letzten Keks zu naschen und sich dann im Stall auszuruhen. Der Weihnachtsmann öffnete ihnen die Haustür und sie trabten das kurze Stück zu ihrem Stall hinüber.

Rudolph verließ als Letzter das Haus. Er reichte dem Weihnachtsmann feierlich den Huf und wünschte ihm eine gute Nacht. Der Weihnachtsmann klopfte ihm den Hals und sagte: „Das war ein wunderschöner Abend, Rudolph. So wie es aussieht, werden wir morgen eine sturmfreie Reise haben und hoffentlich viele Kinder glücklich machen!“ Der Weihnachtsmann hielt einen Augenblick inne und fügte dann noch hinzu: „Du bist mein dienstältestes Rentier und ich kann mich immer auf dich verlassen. Dafür möchte ich dir danken, Rudolph!“
„Passt schon, Chef!“, murmelte Rudolph verlegen und versuchte vergeblich, seine vor Stolz glühende rote Nase zu verbergen. Dann trabte auch er – hochzufrieden und mit glänzenden Hufen – zum Stall hinüber.

Annette Mühlenfeld

Ein großer Dank an Anna-Marie, Maximilian, Tobias, Julian und Lisa für ihre Ideen und ihre Mitarbeit!!

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