Rentier

Vom Rentier, das nicht warten konnte, Teil 1

Der Weihnachtsmann zog die schweren Stiefel von den Füßen und ließ sich zufrieden in seinen bequemsten Sessel fallen. Soeben war er von einem langen Spaziergang zurückgekehrt. Er hatte seine Rentiere besucht und sich davon überzeugt, dass sich alle bester Gesundheit erfreuten und fit waren für die lange Reise zur Erde. Jedes Rentier hatte eine Extraportion Heu und Kraftfutter erhalten sowie ein Bund Möhren und zum Nachtisch einen selbstgebackenen Keks.

Die Elfen und Feen des Rentierstalls hatten ganze Arbeit geleistet und den großen Schlitten, der für unendlich viele Geschenke Platz bot, geputzt und poliert. Geschirr und Zügel der Rentiere glänzten und die Tiere selbst waren auch schon einer ersten Grundreinigung unterzogen worden. Morgen stand dann noch einmal ausführliches Bürsten an, die Hufe würden poliert werden und jedes Rentier freute sich schon darauf, seinen Platz vor dem Schlitten des Weihnachtsmanns einzunehmen. Doch noch war es nicht ganz so weit. Der Weihnachtsmann streckte die Beine aus und überlegte, ob er bei seinen Vorbereitungen auch wirklich nichts vergessen hatte. Er zog sich seine Kaffeetasse dichter heran und wollte gerade einen Schluck nehmen, als es an seiner Haustür klopfte. Seufzend stand er auf und schlurfte den Flur entlang. Er öffnete die Tür und blickte in die Augen seines dienstältesten Rentiers, das dezent den Huf an die Tür gedonnert hatte, um sich bemerkbar zu machen.

„Rudi, alter Knabe!“, rief der Weihnachtsmann erfreut. „Ich war gerade im Stall bei deinen Kollegen und habe erfahren, dass du schon eine Proberunde gedreht hast. Gibt’s einen Grund?“ Rudolph blinkerte ein wenig mit den Augen. Aber der Weihnachtsmann fuhr schon fort: „Es ist alles bereit für die große Reise! Die Rentiere können es kaum erwarten, alle Geschenke sind verpackt und der Schlitten hat alle Sicherheitsprüfungen bestanden. Ich freue mich, dass es nun wieder losgeht.“ Er unterbrach sich erschrocken und rief: „Aber ich rede und rede. Komm doch erst mal rein und setz dich zu mir. Nimm am besten auf dem roten Sofa Platz. Die Sessel sind zu klein für dich.“ Es klirrte und Rudolph zog verlegen den Kopf ein. Er war mit seinem Geweih an die Deckenleuchte gestoßen. Der Weihnachtsmann war aber nicht kleinlich und sah einfach darüber hinweg. Er klopfte ihm den Hals und fragte: „Es ist doch alles in Ordnung, oder?“

Rudolph nickte wieder. „Ja, Chef! In diesem Jahr hatte der Weihnachtsstress keine Chance. Alle haben mitgeholfen, die Wunschzettel waren rechtzeitig da und die Wünsche zum größten Teil durchaus erfüllbar.“ Rudolph zog die Nase kraus. „Ein paar Wünsche haben allerdings Schwierigkeiten bereitet. Die Mitarbeiter in der Werkstatt haben erzählt, dass es doch tatsächlich ein paar Kinder gab, die sich keine Hausaufgaben mehr wünschen. Und ganz viel Hitzefrei, Kältefrei und Sturmfrei.“
Der Weihnachtsmann schüttelte verwundert den Kopf und schaute Rudolph ratlos an. Der beruhigte ihn sogleich und sagte: „Es gab natürlich sehr viel mehr vernünftige Kinder, die sich nur ein bisschen weniger Hausaufgaben wünschen und ab und zu mal einen freien Tag. Das finde ich eigentlich ganz in Ordnung.“ – „Ja“, meinte der Weihnachtsmann, „damit kann ich umgehen. Das lässt sich einrichten und gut über das Jahr verteilen. Ich trag es gleich in meinen Jahreskalender ein, damit ich es nach den Feiertagen nicht vergesse.“

Der Weihnachtsmann stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, der in einer Ecke seines gemütlichen Wohnzimmers stand. Er zog eine Schublade auf und zerrte den großen Kalender heraus. Nach einigem Blättern entschied er sich für ein bestimmtes Datum und trug mit Rotstift ein: SCHULFREI. Dann kehrte er zu seinem Sessel zurück und schaute

Rudolph erwartungsvoll an. Der hatte inzwischen auf dem Sofa Platz genommen und versuchte, seine Nase unter Kontrolle zu halten. Immer, wenn er aufgeregt war, fing sie nämlich an zu leuchten. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, die Leuchtkraft sinnvoll einzusetzen. Jedes Kind kennt ja die Geschichte vom Rentier mit der leuchtenden Nase. Für den Weihnachtsmann war das leicht rötliche Glimmern ein sicheres Zeichen dafür, dass Rudolph etwas auf dem Herzen hatte.

„Hier, Rudolph!“, sagte er und schob ihm einen Keksteller hin. „Greif zu und dann erzähl mal, wo der Huf drückt.“ Rudolph griff dankbar nach einem großen Keks, den er mit einem Happs hinunterschluckte, und fing dann an zu sprechen. „Ja, also, Chef, ähem – es ist nämlich so.“ Er räusperte sich verlegen, nahm sich dann aber zusammen und erzählte: „Natürlich weiß ich, dass es absolut unüblich ist, schon vor dem Weihnachtstag durch die Gegend zu fliegen. Es wird nicht wieder vorkommen, aber ich konnte einfach nicht mehr warten.“

Rudolph hob seine Hinterbeine an und knallte sie auf die Armlehne des Sessels vom Weihnachtsmann. „Hier, Chef. Schauen Sie mal.“ Der Weihnachtsmann betrachtete interessiert die Hufe, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Verwundert schaute er zu Rudolph auf und fragte sich gerade, ob sein Hauptrentier vielleicht eine Möhre zu viel gegessen hätte. Aber Rudolph zappelte aufgeregt mit den Hufen und rief: „Chef, sehen Sie denn nicht die Spezialbeschleunigungsglanzcreme? Damit fliegt und landet es sich so viel besser als mit dem herkömmlichen Zeugs.“ Er machte eine wirkungsvolle Pause und sagte dann stolz: „Hab‘ ich mir im Internet bestellt!“

Der Weihnachtsmann unterdrückte ein Lächeln und sagte dann schnell: „Sieht großartig aus, Rudolph. Das hätte mir eigentlich sofort auffallen müssen.“ Rudolph zog die Hufe zurück und nahm wieder eine bequeme Sitzhaltung ein. Dann fuhr er fort: „Ich musste diese Spezialbeschleunigungsglanzcreme unbedingt ausprobieren. Deshalb habe ich mich heute Nacht aus dem Staub gemacht und bin schon mal zur Erde geflogen. Es hat mich aber niemand gesehen. Da bin ich sicher. Es war nämlich ziemlich neblig heute.“ „Aha“, nickte der Weihnachtsmann. „Also, das war es. Du warst schon auf der Erde und hast dich umgesehen. Dann erzähl mal. Wie sieht’s denn so aus da unten in diesem Jahr?“

Durch das Fenster sah man die ersten Schneeflocken zu Boden fallen. Der
Weihnachtsmann zündete eine Kerze an, nahm sich noch einen Keks und blickte dann erwartungsvoll zu Rudolph, der tief Luft holte und überlegte, wo er mit seinem Bericht anfangen sollte. Dann legte er einfach los und hielt sich ab und zu kichernd einen Huf vor das Maul, als er dem Weihnachtsmann berichtete, was er alles erlebt hatte. „Also, Chef, das war so. Ich flog einfach los. Ich war unglaublich schnell wegen der …“ – „Ja, ja, ich weiß schon“, unterbrach ihn der Weihnachtsmann. „Wegen der Spezialbeschleunigungsglanz creme. Das hast du schon erwähnt.“

Rudolph nickte verlegen und schaute noch einmal hingebungsvoll auf seine Hufe. Es war klar, dass er die Spezialbeschleunigungsglanzcreme am liebsten in den Mittelpunkt seiner Erzählung gestellt hätte, aber das ging natürlich nicht. Er holte also zum zweiten Mal tief Luft und begann: „Ich bin los und hab mir unterwegs überlegt, dass ich einen ersten Abstecher nach Berlin mache. Ich wollte mal nachschauen, ob die Kinder, die letztes Jahr so nett waren, noch immer so nett sind und ob die Kinder, die letztes Jahr so frech waren, sich gebessert haben.

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