Zeitreise einer Berliner Familie Teil 02
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Die vier Kinder von Max und Johanna Leyser sind Erich (1896 – 1967), Erwin (1902 – 1976), Alfred (1904 – 1994) und Dora (1910 – 2001). Die drei Söhne sind Masseure geworden. Erwin und Alfred waren außerdem Orthopädie-Techniker. Dora wurde Friseuse und später Textil-Kauffrau. Erich, der sowohl wie sein Vater im Ersten Weltkrieg als auch später im Zweiten Weltkrieg gedient hatte, arbeitete als junger Masseur in der Badeanstalt in der Oderberger Straße. Dort lernte er seine Kollegin und spätere Frau Berta kennen. Die Ehe blieb kinderlos. Beide gingen in ihrem Beruf auf und richteten sich eine Massagepraxis in der Gaudystraße ein, die sie bis zum Rentenalter führten. Sie hatten 1925 geheiratet, also noch bevor Hitler die Nürnberger Gesetze eingeführt hatte. Es ist sicherlich nicht auszuschließen, dass Erich durch seine nichtjüdische Frau geschützt wurde und auch durch seine Ausbildung zum Sanitäter für das deutsche Militär von Interesse war, wo er 1944 seinem Vaterland diente.
Erwin und Alfred haben auch in ihrem Beruf gearbeitet. Alfred und seine „arische“ Freundin Charlotte hatten Geld zusammengespart, um sich eine hübsche Wohnung einzurichten und zusammenzuziehen. Beide liebten klassische Musik und begeisterten sich an ihrer Schallplattensammlung und an dem professionellen Klavierspiel von Charlotte. Als sie 1935 das Aufgebot gestellt hatten, wurde Alfred verhaftet. Er kam wegen Rassenschande ins Gefängnis, verlor die Arbeitserlaubnis und durfte zu Charlotte keinen Kontakt mehr haben. Um Charlotte und auch Alfred zu schützen, erzählten ihr ihre Eltern, dass Alfred tot sei. Die junge Frau grämte sich so sehr, dass sie krank wurde und nach kurzer Zeit starb. Alfred hat sich irgendwie durchgeschlagen, bis ihm durch die jüdische Gemeinde eine Tätigkeit als Masseur und Heilgymnast in einer jüdischen Familie angeboten wurde. Er sollte dort die jüngste Tochter, die gerade das Abitur gemacht hatte und an Kinderlähmung erkrankt war, behandeln. Das war für beide ein großes Glück. Die Behandlung war erfolgreich, sie hatten die gleichen Interessen (Musik und Kunst) und haben sich schließlich auch ineinander verliebt.
Im Laufe der Zeit hatte sich die politische Lage zugespitzt. Lottes Vater wollte, da auch die Genesung der Tochter vorangeschritten war, endlich mit seiner Frau und den beiden Töchtern zu den Verwandten nach England auswandern.
Es war inzwischen Herbst 1938 und er bekam nur drei Schiffskarten nach England. Er fragte Alfred, ob er Lotte heiraten würde, wenn er für sie beide und für den unverheirateten Bruder Erwin Schiffskarten nach China kaufen würde; denn das waren die letzten Karten, die es noch gab. So kam es, dass Lotte und Alfred am 15. Dezember 1938 geheiratet haben. Im Januar 1939 haben sie zu dritt in Bremerhaven die „Scharnhorst“ bestiegen; es war das letzte Schiff, das Deutschland verlassen hat. Jeder von ihnen hatte nur 10 Mark in der Tasche, mehr war nicht erlaubt. Durch Lotte, die sehr kontaktfreudig war und damals schon einige Fremdsprachen konnte (später kam sogar chinesisch u.a. dazu) lernten sie auf dem Schiff interessante neue Menschen kennen. So entwickelte sich eine Freundschaft zu einem Schweizer, die lange halten sollte.
Während der schweren Zeit, die sie in Shanghai im Getto verbringen mussten, entpuppte sich der Schweizer als Retter und Geldgeber. Alfred und Erwin konnten so ein orthopädisches Geschäft „Leyser Brothers“ eröffnen; sie waren fleißig und erfolgreich und konnten sich ihren Lebensunterhalt erarbeiten. Erwin lernte in Shanghai seine spätere Frau kennen, eine Berlinerin, die mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann emigriert war.
1947/48 mussten Europäer China verlassen und Erwin und Alfred haben mit ihren Frauen in San Francisco einen Neuanfang gestartet. Sie haben wieder in ihrem Beruf gearbeitet und in Amerika Fuß gefasst. Es war ihnen auch möglich, Care-Pakete zu ihren Angehörigen nach Deutschland zu schicken.
Das vierte Kind von Max und Johanna war Dora, die ersehnte Tochter, die von der gesamten Familie verwöhnt wurde. Besonders Alfred kümmerte sich liebevoll um die kleine Schwester und nahm sie gern zu Museumsbesuchen mit. Dora hat ihren zukünftigen Mann auf der Schlittschuhbahn des Exerzierplatzes (Nähe Schönhauser Allee) kennengelernt. Als sie 1935 geheiratet haben, waren die Nürnberger Rassengesetze noch nicht in Kraft getreten. Doch bald wurde in Doras Personalausweis der zusätzliche Name „Sara“ eingetragen. Männer jüdischer Abstammung bekamen den Erkennungsnamen „Israel“. Erich, der als Textilkaufmann und Prokurist in einer angesehenen Firma am Spittelmarkt arbeitete, war von seinem Chef gewarnt worden, als „Arier“ in diesen Zeiten eine Jüdin zu heiraten. Erich, ein sehr ehrlicher Charakter, stand aber zu seinem Wort. Es gelang ihm sogar einen evangelischen Pfarrer zu finden, der Dora im September 1936, einen Monat vor der Geburt des ersten Kindes, in der Gethsemane–Kirche taufte. Die kleine Hannelore und später ihr Bruder sind dort auch von dem gleichen Pfarrer getauft worden. Erich ist es nach vielen Schwierigkeiten gelungen, dass der Name Sara in Doras Pass gestrichen wurde.
Für Johanna und Max war es natürlich eine besonders große Freude, in dieser traurigen Zeit, mit den vielen schmerzlichen Abschieden, die ersten und einzigen Enkelkinder in ihren Armen halten zu können. Die Enkelin Hannelore hatte als Siebenjährige für ihren Bruder den Namen Detlef ausgesucht, im Gedenken an Detlev von Liliencron; denn auch sie liebte seine Gedichte, die der Opa ihr vorgetragen hatte.
Die Bombenangriffe auf Berlin hatten sich inzwischen gewaltig verstärkt und ein geregelter Schulunterricht war nicht mehr möglich. Entweder wurden Schulkinder im Klassenverband in ruhigere Gegenden evakuiert oder Familien fanden selbst eine Möglichkeit Berlin zu verlassen. So hat Dora mit den beiden Kindern im Januar 1944 von ihren Eltern Abschied genommen und ist bis September in Schwerin/Warthe geblieben. Für Max war dieser Abschied zu hart; er ist im Februar 1944 an einem Herzinfarkt zu Hause verstorben und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee beerdigt.
Erich, der Ehemann von Dora, wurde nicht eingezogen. Er war von seiner Firma, die Militäruniformen herstellte, „u k“ (unabkömmlich) gestellt worden. Im September 1944 hatte er aber eine Einberufung erhalten: Er musste nach Jena und (wegen seiner jüdischen Frau) „unter Tage“ arbeiten. Hannelore erinnert sich noch gut an das Weihnachtsfest 1944, das sie, wie viele Familien, ohne den Vater verleben sollten. Als sie aber am 25. Dezember früh das Schlafzimmer betrat, lag der Vater zwar völlig abgemagert, doch fröhlich lächelnd im Bett. Die Arbeiter hatten wohl zwei freie Tage bekommen. Kurz vor Kriegsende ist er dann endgültig nach Hause gekommen.
Johanna ist nach dem Tod von Max fast täglich zu ihrer Tochter Dora gegangen. Schlafen wollte sie dort nicht; denn sie musste täglich ihre hübsche Wanduhr aufziehen. Sie schälte bei Dora Kartoffeln (sofern man welche hatte) und erzählte Detlef, der vor ihr auf einer Fußbank saß, Märchen. Es waren immer wieder die gleichen Märchen, aber das Ende war immer anders; und darum war es besonders spannend zuzuhören. Hannelore wollte, dass die Oma von „früher“ erzählt und das tat Johanna sehr gern. Sie brachte Hannelore auch die Couplets bei, die Max vorgetragen hatte, sie sang und tanzte mit ihr.
Spannend fanden es Detlef und Hannelore, wenn Oma Hanni mit ihnen nach Weißensee auf den Friedhof fuhr. Sie haben dann einen Stein auf Opas Grabstein gelegt und sich die vielen alten Gräber angeschaut, zwischen denen Detlef so gern „Eisenbahn“ spielte. 1950, einen Tag nach dem ersten Advent, den sie noch mit der Familie verlebt hatte, ist sie in ihrem Bett an Herzversagen verstorben. Sie ist bei Max beerdigt worden.
Nach dem Krieg wurde der Kontakt zwischen den „Amerikanern“ und den „Berlinern“ durch Care-Pakete und Briefe wieder hergestellt. Johanna hat aber ihre beiden Söhne nicht mehr wiedergesehen. Alfred und Lotte kamen erst 1960 zum ersten Mal nach Deutschland. Sie sind bis zu ihrem Tode in Amerika wohnen geblieben. 1967 kam Erwin als Witwer und Rentner zurück nach Berlin, um hier seinen Lebensabend in der Nähe seiner Angehörigen zu verbringen. Es war damals geplant, dass er von seiner Familie in Bremerhaven abgeholt werden sollte. Doch Bruder Erich, so sensibel wie sein Vater Max gewesen war, bekam vor Aufregung zwei Tage vor der Ankunft des sehnlich erwarteten Bruders einen Herzinfarkt, an dem er am Ankunftstag verstorben ist. Erwin hat sich gut in Deutschland eingelebt, obwohl er oft erwähnt hat, dass ihm hier alles im Vergleich zu USA so klein und beengt vorkommt und dass er keine richtige Heimat hätte. Für Hannelores Kinder ist Erwin (stets mit Kavalier-Taschentuch), ein guter Ersatzopa geworden, obwohl er immer der ältere Bruder sein wollte (amerikanischer Jugendwahn).
Die „Berliner“, die sich durch Heirat und Familienzuwachs vergrößert hatten, sind in der Folgezeit des Öfteren zu Lotte und Alfred nach San Francisco geflogen. Als älteste der Generation ist Lotte, mit der Hannelore regelmäßigen telefonischen Kontakt hatte, im Jahre 2018 in einem Jüdischen Seniorenheim in San Francisco verstorben. Wegen der Polio-Infektion in der Jugend und der Gehbehinderung war sie zum Schluss ans Bett gefesselt, jedoch geistig top-fit. Wie alt sie geworden ist? Wir wissen es nicht. 100 Jahre? Sie hat immer ein Geheimnis aus ihrem Alter gemacht. Bei ihrer Emigration konnte sie noch nicht volljährig gewesen sein. Vielleicht hatte sie damals gefälschte Papiere. Noch heute besucht ab und zu ein Familienmitglied den Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee und hält die Tradition wach, einen kleinen Stein auf den großen, schwarzen Grabstein von Max zu legen, und das im Gedenken aller Vorfahren.
Hannelore Krause